Sinn und Freude im Kleinen finden
„Ikigai“, dieseWort begegnet einem immer öfter – vielleicht nur im Vorbeigehen irgendwo gelesen oder aber von jemandem gehört. Dieses Wort aus dem Japanischen bedeutet so viel wie „das, wofür es sich zu leben lohnt“.
Warum tun wir Dinge, was lässt uns morgens aufstehen, was motiviert uns, was gibt uns ein Gefühl der Erfüllung, Dankbarkeit und Freude? Im Alltag können solche Fragen leicht untergehen, weil wir zu viel zu tun haben, manches einfach nur automatisch läuft, wir uns erschöpft fühlen, oder nicht den Moment finden, um für eine solche Frage innezuhalten.
Schlussendlich geht es um die Frage nach dem Sinn, danach, was bestimmte Dinge, Handlungen oder auch Gefühle uns bedeuten, welchen Wert sie für uns haben. Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben zu sagen, dass uns die Frage nach dem Sinn unseres Lebens als Menschheit schon tausende Jahre begleitet und auch das Prinzip von „Ikigai“ ist nicht neu. Auch Viktor Frankl spricht davon, wie maßgeblich es für uns Menschen ist, uns mit dem Sinn der Dinge zu befassen, uns unserer ganz persönlichen Werte bewusst zu werden.
Das Menschsein ist "immer-auch-anders-werden-können" – Viktor Frankl
Nun wieder zurück zum Alltag, der uns manchmal vergessen lässt, eben jene Fragen nach Sinn und Wert zu stellen. Lässt uns der Alltag das vergessen, sind wir dem Alltag quasi ausgeliefert? Hier möchte ich Viktor Frankl zitieren, dass der Kern des Menschseins nicht ein „Nun-einmal-so-und-nicht-anders-sein-Müssen (…)“ ist, sondern ein „immer-auch-anders-werden-können“.* Demnach kann es natürlich sein, dass wir Dinge erledigen müssen, Aufgaben haben, die danach drängen getan zu werden und doch können wir immer auch anders und wenn es nur für einen Augenblick ist. Wir haben die Freiheit uns dafür zu entscheiden innezuhalten, den Alltag für eine Weile Alltag sein zu lassen und uns eine Frage zu stellen.
Ein schönes Bild für diesen Vorgang ist das Foto oben: die Seite eines Wörterbuches ist von unzähligen Worten gefüllt, wo einzelne Worte in der Menge leicht untergehen können. Doch wir können uns entscheiden, den Fokus auf ein bestimmtes Wort zu richten. Und genau so können wir den Fokus auf uns richten, uns bewusst Fragen stellen und wie unter der Lupe „hinhören“ was unsere Antwort ist.
Um für uns Sinnhaftigkeit zu leben, ein uns wertvolles Ziel im Herzen zu tragen, die Kostbarkeit kleiner freundlicher Gesten zu leben, bedarf es keiner äußerlich positiven unterstützenden Ereignisse. Viktor Frankl selbst hat sich mit diesen Fragen im KZ auseinandergesetzt, hat versucht zu erfassen, was es war, das manche Menschen selbst unter schrecklichsten Umständen durchhalten ließ, was sie weiterhin Ja zum Leben sagen ließ.
Eigenverantwortung ist Ausdruck unserer Freiheit
„Das ureigenste aller Menschenrechte ist die Eigenverantwortung“, schrieb Viktor Frankl und dieses Recht können wir– selbst wenn es uns eine Weile in Vergessenheit geraten ist, immer wieder in Anspruch nehmen. Dieses Menschenrecht der Eigenverantwortung besteht zumBeispiel in der Freiheit, die wir darin haben, wie wir auf einen Umstand, eine Situation reagieren. Das, was im Außen geschieht, können wir nicht unbedingt beeinflussen, aber wir haben die Freiheit unsere ganz eigene Reaktion zu wählen.
Allerdings ist es nicht immer leicht, sich dessen bewusst zu sein, dass wir unsere Reaktion wählen können. Denn manchmal scheint es, als würden wir automatisch reagieren. Und so kann es ein Weg sein, den wir zurücklegen müssen, bis wir immer öfter dieses Geschenk der Eigenverantwortung, der freien Wahl unserer Reaktion auf Dinge mehr und mehr leben können. Manchmal können wir das mit Zeit, Achtsamkeit, Innehalten und uns Fragen stellen hervorragend alleine schaffen. Aber manchmal bedarf es da auch der Unterstützung, einer Wegbegleitung.
Wenn wir unverarbeitete Themen und Verletzungen aus der Vergangenheit in uns tragen, so kann es sein, dass diese durch bestimmte Umstände getriggert werden und dann fühlt es sich so an, als hätten wir keine Wahl in unserer Reaktion. Wenn wir aber lernen zu erkennen, von welchem Platz in uns wir in manchen Situationen reagieren (vielleicht vom kleinen Kind aus, das immer abgelehnt wurde), dann können wir uns eigenverantwortlich um dieses Gefühl des Abgelehntseins kümmern und dann anders auf die Situation im Außen reagieren, von einem Platz im Hier und Jetzt aus. Diese Art der Beschäftigung mit uns, die uns in unseren Reaktionen auf äußere Umstände mehr Freiheit gibt, kann uns eine tiefe Sinnhaftigkeit und damit auch Freude vermitteln – selbst, wenn es es nicht immer leicht sein mag.
"Ikigai gibt dem Leben einen Sinn, und das verleiht uns das Durchaltevermögen zum Weitermachen." – Ken Mogi
Auch „Ikigai“, der Lebenssinn oder ein das Gefühl der Sinnhaftigkeit und des Lebenswertes , ist kein Zustand, der uns einfach überkommt, der wie eine Gnade auf uns herabrieselt. Es ist unser Tun, unsere Haltung, unser Innehalten und die immer wieder neueFrage, „Was bedeutet mir _____ ?“, „Welcher Gedanke, welches Morgenritual, welche Handlung lässt mich morgens freudig aufstehen?“.
"Ikigai", wie Ken Mogi es in seinem Buch Ikigai –Die japanische Lebenskunst** beschreibt, hat fünf Säulen:
1. Klein anfangen
2. Loslassen lernen
3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben
4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken
5. Im Hier und Jetzt sein
Schon diese 5 kleinen Sätze können uns inspirieren, können Anstoß dafür sein, uns und unsere Werte zu erforschen. „Klein anfangen“ beispielsweise: Wo erlauben wir uns das? Haben wir die Geduld und Selbstliebe, dass wir uns kleine Schritte erlauben? Wir können all diese fünf Säulen auf uns wirken lassen und schauen, was bedeuten sie für uns? Oft schauen wir nach außen, wollen gerne wissen, wie Dinge zu verstehen sind, was „richtig“ und was „falsch“ ist. Aber sinnhafte Antworten, ein wirklicher Bezug kommt meistens dann, wenn wir nach innen schauen, uns Raum geben zu fühlen, was unsere Assoziationen, Gedanken und Gefühle etwa zu den einzelnen Punkten auf der Liste oben sind.
Sinnhaftigkeit entsteht immer in uns, in unserer Einzigkartigkeit
Um für uns sinnhaft zu leben, braucht es uns, unsere Haltung unsere gefühlten Werte, unsere Freude an bestimmten Dingen, Menschen und Interaktionen. Freude ist ein ganz wunderbarer Wegweiser, um uns im Leben zu verankern. In welchen kleinen Dingen entdecken wir Freude? Und auch hier gibt es keine richtige und keine falsche Antwort, nur unsere ganz eigene. Wenn wir uns dieser kleinen Dinge gewahr werden, einen Moment der Freude in uns fühlen, so ist dieser Moment ein Quell der Kraft für uns, denn Freude motiviert uns, lässt uns einen Moment entspannen und davon profitiert unser gesamtes System.
Als Abschluss deshalb die Fragen: Was erfüllt dein Herz? Wo kannst du klein anfangen?
Die Antworten liegen einzigartige und individuell in jedem von uns. Und in jedem von uns liegt im Moment des Lesens – also jetzt – die Chance sich zu entscheiden, die fünf Fragen, die fünf Säulen des „Ikigai" aufzuschreiben, an den Kühlschrank, den Badezimmerspiegel oder die Schlafzimmertüre zu hängen und sich so eine Erinnerung zum Innehalten zu erschaffen.
*Viktor Frankl: Grundriß der Existenzanalyse und Logotherapie. In: V. Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten. Beltz, 2005
** Ken Mogi: Ikigai. Die Japanische Lebenskunst. Dumont, 7. Auflage 2022